Nein, nicht an allem, aber doch Mitschuld daran, dass wir nicht genug Arbeitskräfte haben, denn ich bin gewollt kinderlos. Meine Mutter lernte meinen Vater auf der Schauspielschule in Hannover kennen und meinte später mal, er hätte sie vergewaltigt. Toll, sonst wäre ich wohl nicht hier. Sie bekam dann eines Tages auf der Bühne Wehen und wurde mit einem LKW in ein Krankenhaus gebracht, wo erst ich und dann mein Zwillingsbruder Uwe zur Welt kam. Weil wir Frühchen waren, mussten wir erst ein paar Wochen in einen Brutkasten. Da damals anders keine gemeinsame Wohnung zu bekommen war, heirateten meine Eltern und zogen zusammen. Es dauerte für sie nicht lange, um zu erkennen, dass sie keine harmonische Ehe führen würden, weshalb sich meine Mutter bald wieder scheiden lies. Mit zwei Kindern und ohne einen Berufsabschluss, sah die Zukunft für sie nicht rosig aus. Sie brach ihr Schauspielstudium ab, lernte Schreibmaschine schreiben und wurde Sekretärin bei einem Hamburger Architekten. Uns gab sie zu ihren Eltern nach Bremerhaven, wo der Großvater uns gelegentlich mit einer siebenschwänzigen Peitsche züchtigte. Er war Gewerbeoberlehrer im Ruhestand und hatte einen Sohn und zwei Mädchen mit großgezogen. Die Schwester meiner Mutter wohnte noch bei ihren Eltern und half gelegentlich beim Aufpassen auf uns. Ich half meiner Oma im Haushalt und ging mit ihr oft auf den Wochenmarkt zum Einkaufen. Der Sonntag war der einzige Tag in der Woche, wo es Mittags Fleisch gab. Ich war damals so konditioniert, dass ich beim Auftun der Mahlzeit immer mal wieder sagte: »Warten bis Fleisch kommt«, was hieß: Fangt' nicht mit dem Essen an, bevor das Fleisch auf dem Teller liegt, denn das sollte uns ja groß und stark machen, sagte die Werbung. Nachdem wir eingeschult waren, wurden es für unsere Großeltern zu viel Mühe uns zur Schule zu bringen und wieder abzuholen (wir wohnten an einer viel befahrenen Hauptstraße in Bremerhaven). Darum holte unsere Mutter uns zu sich nach Hamburg-Bahrenfeld und schickte uns dann wochentäglich in einen evangelischen Kindergarten. Sie war inzwischen in ein Haus eines verheirateten Bauunternehmers gezogen, mit dem sie ein Verhältnis hatte, war aber weiter auf Partnersuche und fand dann einen 16 Jahre älteren Chemiefabrikanten mit Sitz im Nobelvorort Nienstedten, den sie heiratete und für ihn zwei weitere Jungen bekam. Mein Zwillingsbruder und ich bekamen ein Zimmer unter dem Dach der Fabrik, und ich durfte meinen Stiefvater gelegentlich als eine Art Hilfsarbeiter in der Fabrik und bei anderen Arbeiten unterstützen. Er war sehr autoritär und schlug nicht nur uns, sondern auch unsere Mutter. Einmal flüchtete sie sogar gemeinsam mit uns, aber er konnte sie überreden zurückzukommen. Als ich etwa 14 Jahre alt war und er mich mal wieder geohrfeigt hatte, sagte ich ihm, wenn er das noch einmal täte, würde ich zurückschlagen. Das belastete unsere Beziehung so stark, dass ich flüchtete und mit meinem Fahrrad nach Spanien fahren wollte, weil ich hoffte, dort auch im Winter gut als Wohnungsloser überleben zu können. Ich kam mit dem Fahrrad bis nach Hannover und hatte auf dem Weg in einer Hollywoodschaukel in einem fremden Kleingarten übernachtet. Da ich keine Lust hatte, so weiterzufahren, stellte ich mein Fahrrad ab und versuchte als Anhalter weiterzukommen. Der erste, der mich mitnahm, hörte sich meine Geschichte an und sagte dann, er hätte eine ähnliche Jugend hinter sich und könne das nicht empfehlen. Er brachte mich – mit meinem Einverständnis – zu einer Polizeistation, von wo man mich nach einem Verhör, in einen Zug nach Hamburg setzte, mit der Anweisung zu meiner Familie zurückzukehren, was ich dann auch tat. Meine Mutter erkannte, dass ich mit dem Stiefvater keine gute Aussicht haben würde und organisierte mir ein kleines Zimmer in der Nähe vom Dammtor. Von dort brachte ich meine Lehre als Elektronikmechaniker zu Ende und arbeitete nebenbei für einen Bio-Supermarkt. In einer Disko lernte ich dann eine junge Dame kennen, die sich für mich interessierte. Ihr Vater betrieb einen Blumenstand am Bahnhof Bahrenfeld, wo ich gelegentlich beim Verkauf half. Die Beziehung schien mir recht harmonisch zu sein, weshalb wir auf bitten der Eltern kirchlich heirateten. Die Andacht war dann aber dermaßen schlecht, dass ich unverzüglich aus der Kirche austrat, um sowas nicht weiter finanziell zu unterstützen. Von nun an war ich eine Art Nihilist. Da ich noch nicht bereit war mit ihr Kinder zu haben (denn ich hatte noch keine vielversprechende Arbeit gefunden), benutzte ich zur Verhütung Kondome. Als ich meine Dienstzeit bei der Bundeswehr abgeschlossen hatte, sagte sie mir, dass sie nun gerne ihre Arbeit als Stenotypistin bei der Deutschen Bank aufgeben und statt dessen Kinder kriegen und großziehen wolle. Nachdem ich in mich gegangen und mich gefragt hatte, was mich zum Familienvater qualifizieren würde, kam mir meine unschöne Kindheit wieder ins Bewusstsein und das schlechte Vorbild, das ich von dort hatte. Also entschied ich mich dagegen. In der Folge ließen wir uns scheiden und ich ließ vorsorglich an mir eine Vasektomie vornehmen. Damit hatte ich besiegelt, dass ich keine Kinder zeugen und großziehen würde und so schon 1974 unbewusst zum heutigen Arbeitskräftemangel beigetragen habe. Ich freue mich, dass Menschen aus anderen Ländern zu uns kommen und meist ungelernt, einfache Hilfsarbeiten übernehmen können. Auch dass sie sich integrieren, fortbilden und qualifiziertere Arbeiten übernehmen können, freut mich sehr für sie, denn ich habe mal eine ähnliche Erfahrung gemacht. 1988 bin ich in die USA gezogen, weil mich die Regierung Kohl und das Wetter in Deutschland frustrierten. Dort lernte ich eine Frau kennen, die sich zur Leiterin einer Montessori-Kita ausbilden ließ. Sie selber hatte drei Mädchen mit einem Ingenieur von der NASA, ließ sich dann aber scheiden. Ich war in ihrer Kita das sogenannte Mädchen für alles, was sie nicht tat. Unter anderem fungierte ich als Koch, Geschäftsführer, Chauffeur, Gärtner und "Kindermädchen". Wir kamen uns näher und beschlossen zu heiraten. Als Katholikin wollte sie in der katholischen Kirche heiraten, aber wir hätten dafür zuvor unsere erste Ehe für ungültig erklären lassen müssen. Das empfanden wir beide als unwürdig unserem früheren Partner gegenüber, weshalb wir dann nur standesamtlich heirateten. Wir machten unsere Hochzeitsreise nach Israel, weil meine Frau gerne den Leidensweg Jesu gehen wollte. Das taten wir dann auch und kamen dabei an einer Scheune vorbei, aus der wir unerklärliches quieken hörten. Wir schlichen uns an die Scheune heran und lugten durch eine Ritze. Da sahen wir Drahtkäfige, in denen dichtgedrängt Truthähne lebten. Jeweils drei dieser Käfige waren übereinander gestapelt, sodass die Ausscheidungen der oberen, den unteren Tieren auf die Köpfe fallen konnte. Das war das erste Mal, dass wir mit Bedingungen der Massentierhaltung konfrontiert waren, beschlossen dafür nicht länger mitverantwortlich sein zu wollen und lebten von nun an vegan. Nach unserer Rückkehr nach Houston führten wir in unserer Kita ein vegetarisches Essensprogramm ein. Das Gesundheitsamt verlangte, dass wir täglich mindestens ein Milchprodukt anbieten, sonst wäre das Essen komplett vegan gewesen. Natürlich wollte meine Frau Sonntags in die Kirche gehen. Also fuhr ich mit ihr dorthin. An manchen Sonntagen sogar zu zwei verschiedenen Gottesdiensten hintereinander, weil sie die verschiedenen Predigten hören wollte. Während sie in der Kita arbeitete, war ich in einem Bio-Supermarkt als MIT-Manager tätig, sprang aber auch gerne zu anderen Tätigkeiten, wie an der Kasse ein. Wir mussten dann unsere Kita verlegen, weil die Vermieterin des Hauses uns kündigte. Wir zogen mit der Kita aufs Land und konnten fast alle Kinder mitnehmen. Da ich weiter meiner Arbeit nachging, suchte meine Frau eine weibliche Hilfe, zu der sie dann eine enge Beziehung entwickelt. In der Folge reichte sie die Scheidung von mir ein, mit der Begründung, ich sei ihr nicht spirituell genug. Ich arbeitete dann als Geschäftsführer für ein Massagestudio. Kollegen überredeten mich mit ihnen in eine Unity-Kirche zu gehen, wo ich eine aufgeklärte Form des Christentums kennenlernte, die mir gefiel. In der Folge ließ ich mich in der Kirche zu einem spirituellen Lehrer ausbilden und war in Pharr, Texas als Pastor tätig. Gelegentlich wurde ich dann auch in andere Kirchengemeinde eingeladen, um Sonntags die Predigt zu halten. Zudem habe ich dann auch einige Hochzeits- und Bestattungsfeiern durchgeführt. Nach der Arbeit für das Massagestudio, wo ich auch etwas massieren lernte, arbeitete ich als Geschäftsführer für das World-Trade-Center in McAllen, Texas und danach selbständig als Computer- und Internet-Consultant. Als meine Aufenthaltserlaubnis zum Ende kam, überlegte ich, ob es nicht Zeit sei, nach Deutschland zurückzukehren und den Deutschen die Lehren der Unity-Kirche nahezubringen. Ich zog dann zurück nach Berlin, in eine Wohnung mit einem großen Wohnzimmer. Zufällig fand ich im Keller des Hauses eine große Anzahl von Sesseln, die ich alle für nur 10 DM erwerben konnte. Damit konnte ich im Wohnzimmer einen großen Kreis machen und bot dort Sonntags eine Unityfeier an. Zeitgleich hatte ich eine Hospizausbildung beim Humanistischen Verband begonnen. Vom Humanismus hatte ich vorher noch nichts gehört und belegte Fortbildungskurse, um diese Theorie näher kennenzulernen. Das hatte zur Folge, dass ich mich selber fragte, ob ich glauben könne, was ich Sonntags predigte. Ich bat Gott mir ein Zeichen zu geben, was ich nicht empfing. Daraufhin stellte ich die Gottesdienste ein und lud stattdessen Interessenten zu einem integralen Salon, nach der Lehre von Ken Wilber ein. Inzwischen sehe ich mich als rationalen Naturalisten und Humanisten, mit einem christlichen Migrationshintergrund. Zudem habe ich jetzt gelernt, dass ich mich zum Re-Migrant qualifiziert habe. Nun versuche ich meine Schuld an unserer Fachkräfte-Misere dadurch auszugleichen, dass ich insgesamt Teil der Lösung statt Teil des Problems bin. Ich praktiziere eine strickt ökologische Haltung und hoffe noch viele Andere davon zu überzeugen. Vielleicht kann ich damit meine Schuld etwas ausgleichen. |